INFOS ZU ZWANGSHEIRAT

ZWANGSHEIRAT ODER ARRANGIERTE EHE?

Eine Zwangsehe liegt dann vor, wenn die Eltern oder die Familie die Braut und/oder den Bräutigam durch Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Heirat zwingen. Sobald einer der Partner mit der Verheiratung nicht einverstanden ist und seine Zustimmung nicht gegeben hat bzw. sich zu einer Zustimmung genötigt fühlt, ist eine Zwangsheirat gegeben.

Davon abzugrenzen ist die arrangierte Heirat. Diese wird zwar auch von Eltern/Verwandten initiiert oder von Ehevermittlern organisiert, aber im Einverständnis der zukünftigen Ehepartner geschlossen.

 

Im Vordergrund ist eine weibliche Hand zu sehen, im Hintergrund ein sitzendes Mädchen

Die Grenzen der Zwangsheirat zur arrangierten Ehe sind fließend und von außen schwer und nur nach genauer Analyse der Motivation und Interessen aller Beteiligten zu beurteilen. Ab wann man von einer Zwangsheirat sprechen kann und was als Zwang empfunden wird, unterliegt der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten. Entscheidend ist, ob die junge Frau oder der junge Mann eine echte Chance haben, „Nein“ zu sagen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der ausgeübte und empfundene Zwang, die Ehe eingehen zu müssen. So kann das, was Eltern als sanften Druck („gut gemeint und das Beste für das Kind“) verstehen, von der Tochter oder dem Sohn in einer psychischen Stresssituation durchaus als Zwang oder Nötigung empfunden werden. Es gibt Mädchen, die akzeptieren, dass die Eltern ihnen mögliche Ehepartner aussuchen, sie aber das letzte Wort bei der Entscheidung haben. In vielen Fällen wird jedoch starker Druck ausgeübt, so dass eine Verweigerung für die Mädchen schwerwiegende Folgen hat. Sie müssen befürchten, ihre Familie zu "verlieren". Oft wird die Zustimmung durch die Eltern und Verwandten mittels psychischem und sozialem Druck, Drohungen bis hin zur angekündigten Tötung im Namen der Ehre, Einsperren, physischer Gewalt erzwungen. Nach geschlossener Ehe wird der Druck in manchen Fällen aufrechterhalten. Die Frauen müssen in der Ehe gegen ihren Willen und mit den damit verbundenen Konsequenzen (s. Folgen von Zwangsheirat) ausharren.

ZWANGSHEIRAT IN ZAHLEN

Im Vordergrund die dunklen Haare einer Person, im Hintergrund ein Mädchengesicht

Experten sind sich einig, dass Zwangsehen in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern der EU sehr viel häufiger vorkommen, als bisher angenommen. Allerdings liegen derzeit keine repräsentativen Zahlen zur Häufigkeit von Zwangsverheiratungen vor. Zu vermuten ist jedoch, dass die Dunkelziffer hoch ist.

Die Auswertung unserer eigenen statistischen Werte vom Juni 2007 – Juni 2017 hat ergeben, dass in diesen 10 Jahren über 1600 von Zwangsverheiratung Bedrohte oder Betroffene beraten werden konnten. Somit hat die Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in Nordrhein-Westfalen monatlich im Durchschnitt etwa 13 neue Beratungsfälle.

Weitere statistische Daten:

  • 89% der Betroffenen war weiblich und 11 % männlich
  • 34% waren unter 18 Jahren, 53 % 18-21 Jahre alt und 14 % über 21 Jahre
  • 86% kontaktierten die Fachberatungsstelle wegen drohender Zwangsverheiratung, 14 % nach vollzogener Zwangsverheiratung
  • Von 40 % der Betroffenen ist der  Bildungsgrad bekannt (N=650). Dieser ist sehr heterogen: 17 Prozent sind in Berufsvorbereitungsmaßnahmen, 14 % in Berufsausbildung, 13% sind berufstätig, 11% besuchen ein Gymnasium, 10% besuchen eine Hauptschule, 9% besuchen eine Gesamtschule, 8% sind arbeitslos, 6% besuchen eine Realschule, 6% studieren an einer Hochschule oder Fachhochschule, 4% besuchen eine Förderschule und 2% eine Fachoberschule.
  • Von 60% der Betroffenen ist das Herkunftsland der Eltern bekannt (N=971).Von diesen kommen 54% aus der Türkei, 8% aus dem Irak, 6% aus Albanien, 6% aus dem Kosovo, 5% aus Syrien, 5% aus Pakistan, 5% aus dem Libanon, 4% aus Afghanistan, 2% aus Marokko und 5% aus zahlreichen anderen Ländern
  • Von 29% der Betroffenen (N= 476) ist die Religionszugehörigkeit bekannt. Von diesen wurden folgende benannt: 68% Islam, 25% Jesidentum, 3% Christentum, 2% Aleviten, und 1% Hinduismus und 1% Sonstige.
  • Der Zugangsweg zur Erstberatung war bei 30% online bei 65% telefonisch und bei 5% face-to-face.
  • 28% der Betroffenen nimmt als erstes selbst Kontakt zur Fachberatungsstelle auf, bei 72% läuft der Erstkontakt über Fach- oder Vertrauenspersonen
  • Von 78% der Betroffenen ist bekannt, mit welcher Gewaltform/Strategie die Zwangsheirat durchgesetzt werden sollte/wurde (N=1267). Von diesen berichten 49% von psychischer Gewalt, 28% von körperlicher Gewalt, 22% von moralischer Erpressung, 18% von Überredung, 7% von Täuschung und 5% von sexualisierter Gewalt
  • Von 77% (N=1250) der Betroffenen ist bekannt, durch wen Gewalt oder Bedrohung ausgeübt wird. Am häufigsten wird von diesen der Vater benannt (55%), gefolgt von der Mutter (30%), dem Bruder (14%), dem zukünftigen Ehemann (9%), dem Onkel (6%), Anderen aus der eigenen Familie (8%), den zukünftigen Schwiegereltern (2%), Anderen aus der Familie des Bräutigams(4%), der Schwester (2%) sowie der Tante ( 1%)
  • Von 48% der Betroffenen sind die psychischen Auswirkungen der Gewalt und Bedrohung bekannt (N=779). 84% zeigen psychische Belastungssymptomatik wie Depression, Ängste, Essstörungen etc., 14% berichten von psychosomatischen Beschwerden, 5% zeigen selbstverletzendes Verhalten und 8% sind suizidgefährdet.
  • Von 58% (N= 938) ist bekannt, durch wen sie im privat- sozialen Umfeld Unterstützung erhalten. Von diesen erhalten 28% Unterstützung durch den Partner/Partnerin, 26% durch Freund_innen, 10% durch die Schwester, 9% durch die Mutter, 6% durch das Arbeitsumfeld, 5% durch den Bruder, 1% durch den Vater, 5% von Anderen aus der Familie und 14% von Anderen.

 

SIND AUCH JUNGEN/JUNGE MÄNNER VON ZWANGSHEIRAT BETROFFEN?

Jungen und junge Männer können ebenfalls von Zwangsheirat betroffen sein. In eher traditionellen Familien werden sie gegen ihren Willen verheiratet, um sie zu disziplinieren und auf den eigenen Kulturkreis zurück zu verweisen. Für sie sind die Folgen jedoch in der Regel andere als für Mädchen, denn jungen Männern werden meist mehr Freiheiten zugestanden: Die Ausbildung kann beendet werden, die Bewegungsspielräume sind wesentlich größer. Unter den negativen Folgen erzwungener Heirat müssen eher ihre Ehefrauen leiden. Das Risiko, missachtet, misshandelt und sexuell genötigt zu werden, ist für sie hoch.

FOLGEN VON ZWANGSHEIRAT

Zwangsehen schaden dem psychischen und gesundheitlichen Wohl. Als Folge erzwungener früher Heirat müssen Mädchen häufig die Schule oder Berufsausbildung abbrechen und geraten dadurch in einen Kreislauf von Bildungsmangel und Abhängigkeit. Wenn Mädchen oder junge Frauen sich weigern, die für sie bestimmte Heirat einzugehen, sind sie oft Repressionen der eigenen Familie ausgesetzt, die von Beschimpfungen und Drohungen über Prügel bis zur Tötung im Namen der Ehre reichen. Nach der Hochzeit wird erwartet, dass die Mädchen oder Frauen dem Ehepartner und eventuell auch seiner Familie gehorchen. Falls sie als Ehefrau ihren Pflichten nicht nachkommt, kann dies in Extremfällen bis zu physischen und psychischen Misshandlungen, wie z. B. Bedrohungen oder Schläge, führen. Darüber hinaus kann von ihr verlangt werden, dem Mann sexuell zur Verfügung zu stehen. So ist das Risiko hoch, von dem aufgezwungenen Ehemann sexuell genötigt zu werden. Die ständige Furcht vor Vergewaltigung ist eine der schlimmsten Folgen von Zwangsheirat für Mädchen und Frauen.

Depressionen, Selbstverletzungen, Suizide und chronische psychosomatische Belastungserkrankungen können infolge von Zwangsehen entstehen.

WARUM WERDEN MÄDCHEN (JUNGEN) ZWANGSVERHEIRATET?

Die Beweggründe der Eltern, die zu einer Zwangsheirat führen, sind vielschichtig. Ein möglicher Grund ist, die Tochter „gut versorgt“ zu wissen. Egoistische materielle Interessen der Eltern können ebenfalls ein Motiv sein, da unter Umständen Brautgeld gezahlt wird. Darüber hinaus haben viele Eltern den Wunsch, ihre in westlichen Ländern aufgewachsenen Söhne und Töchter aus eher traditionellen Familien durch die Heirat mit einem Partner aus dem Herkunftsland zu disziplinieren und auf den eigenen Kulturkreis zurückzuverweisen.

 

Kopf einer jungen Frau mit Kapuze, im Profil aufgenommen

Gerade dann, wenn Mädchen eigene, den tradierten Bildern zuwiderlaufende Lebenspläne entwickeln, können Eltern dazu neigen, sie durch Zwangsheirat wieder auf den „richtigen Weg“ bringen zu wollen. Dabei spielen bestimmte Ehrbegriffe, die sich auf verschiedenste Länder- und Familientraditionen gründen, eine wichtige Rolle; denn Zwangsheirat findet überwiegend im familiären Umfeld statt (d.h. Heirat von Cousine und Cousin). Die Eltern haben das Gefühl, ihren Einfluss zu verlieren und wollen die Tochter durch eine schnelle und ausgewählte Heirat wieder den ihnen gewohnten althergebrachten Gebräuchen unterwerfen. Sie fürchten den Verlust ihres Gesichts (Familienehre), wenn die Tochter eine Freundschaft mit einem Jungen eingeht und ihre Jungfräulichkeit verliert. Durch eine schnelle Heirat werden die Eltern so einerseits aus der Verantwortung entlassen und verfestigen andererseits die traditionellen Machtverhältnisse.

Auch gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung des eigenen Kindes gilt weltweit als ein Motiv, Tochter oder Sohn gegen deren Willen zu verheiraten. Eltern reagieren bereits auf potentielle Homosexualität bisweilen mit Zwangsverheiratung als normierende Instanz. Nicht erst ein innerfamiliäres Outing, sondern bereits die Vermutung, das eigene Kind könnte sich lesbisch oder schwul entwickeln, kann zu Zwangsverheiratungen führen. Als gesellschaftliche Geschlechternorm existiert in Familien jedweder Herkunft mehrheitlich immer noch die unausgesprochene und selbstverständliche Erwartung an eine heterosexuelle Identitätsentwicklung der eigenen Kinder.

Neben den Betroffenen, die in Deutschland leben und hier von den Eltern zu einer Heirat gezwungen werden, sind drei weitere Formen der Zwangsehe zu beobachten:

  • Mädchen und junge Frauen werden aus den Herkunftsländern nach Deutschland geholt und verheiratet. Diese Mädchen (oft als "Heiratsmigrantinnen" bezeichnet) werden oft aus ländlichen Gegenden mit dem Versprechen einer sorgenfreien Zukunft nach Deutschland geholt. Hier finden sie sich dann in einer Schwiegerfamilie wieder, die sie sämtliche Hausarbeiten verrichten lässt - in einem Land, dessen Kultur sie nicht kennen und dessen Sprache sie nicht beherrschen. Ihre eigene Familie ist weit weg, sie sind in einer besonders schwachen Position, aus der sie kaum ausbrechen können.
  • Als „Urlaubsehen“ werden Hochzeiten bezeichnet, die auf familiären Druck im Herkunftsland der Eltern geschlossen werden. Hier handelt es sich um Mädchen, die in Deutschland aufgewachsen sind und dort u. U. auch Partner haben, die jedoch von den Eltern abgelehnt werden.
  • "Aufenthaltsehen" werden mit dem Ziel geschlossen, dem Ehepartner eine Aufenthaltsgenehmigung zu sichern.

Die hier beschriebenen Gründe sind eine vereinfachte Zusammenfassung der möglichen Hintergründe für eine erzwungene Heirat. Die Lebenssituationen der Betroffenen sind vielschichtig und kompliziert und müssen in der Beratung und Unterstützung von Mädchen und jungen Frauen mitberücksichtigt werden.

ZWANGSHEIRAT IST KEIN RELIGIÖSES PHÄNOMEN

In der öffentlichen Diskussion gibt es Tendenzen, Zwangsheirat bestimmten Religionsgemeinschaften zuzuordnen. Grund für Zwangsehen sind jedoch überkommene patriarchale Strukturen, Traditionen und Bräuche, nicht aber Religion im eigentlichen Sinn. Keine der großen Weltreligionen wie Buddhismus, Christentum, Judentum, Hinduismus oder Islam schreibt Zwangsheirat vor. Es lassen sich andererseits in jeder dieser Religionen Textzitate finden, die dazu missbraucht werden, die Unterordnung von Frauen gegenüber Männern zu legitimieren. Diese Zitate werden dann jeweils im Sinne patriarchaler Interessensvertreter herangezogen, um das Selbstbestimmungsrecht von Mädchen und Frauen einzuschränken oder zu verneinen.